Christina Thürmer-Rohr hat den Zusammenhang von Biografie und Zeitgeschichte immer so gesehen: dass die Vergangenheit nicht über die Zukunft herrschen möge, damit der Horizont für das Leben von Morgen offengehalten werden kann, ein Leben, das für eine Weile – vielleicht – auch unseres noch ist.
Ich habe mich gefragt, was ihr unverwechselbarer Beitrag zur Forschung und zur Lehre am Institut für Sozialpädagogik war, dem sie mehr als dreißig Jahre angehört hat. Aus meiner Sicht ist es ihr Engagement gegen die « Verschanzung hinter falschen Eindeutigkeiten », wie sie es in ihrem Essay über « Zweifel als Methode » formuliert hat – Eindeutigkeiten übrigens, die, wie überall auch in der Sozialen Arbeit, das Denken und Handeln gerinnen lassen, zum Beispiel in den kaum hinterfragten Kategorien von « Hilfe » beziehungsweise « Helfen », « Identität », « KlientInnen » usw.
Mit ihren Zweifeln an liebgewordenen Schein-Gewissheiten versucht sie immer wieder, das Sich-Einrichten in einer zum Fetisch gewordenen Praxis zu stören und aufzuwirbeln. Das Verhältnis von Theorie und Praxis, ein Schwerpunkt unseres damaligen Studiengangs, versteht und vertritt sie als eine dialektische Einheit, in der Theorie Praxis ist und umgekehrt Praxis auch Theorie.
Das Ressentiment einer verfestigten Praxis: die Einflüsterung des Mephisto « Grau, teurer Freund, ist alle Theorie », die das Denken abwertet zu Gunsten einer bunten, aber unbegriffenen Praxis und damit auch die Sinnlichkeit als subversive Kraft denunziert, dieses Ressentiment hat sie mit einer manchmal ätzenden Unerbittlichkeit kritisiert, als ein, um es freundlich zu sagen, gespanntes Verhältnis der « Praxis » zu einer nicht als Praxis erkannten « Theorie ».
Als sie 1972 mit ihren beiden Assistenten Jörg Claus und Wolfgang Heckmann – alle drei PsychologInnen, die sich weigerten, die Verhältnisse zu psychologisieren – an das damals junge Institut an der Pädagogischen Hochschule in Lankwitz kam, waren wir, C. Wolfgang Müller, Hellmut Lessing, Gunther Soukup und ich zusammen mit den Studentinnen und Studenten, die damals ganz überwiegend aus der Praxis der Sozialen Arbeit in das Studium kamen, heftig mit der Frage beschäftigt, wie wir das Verhältnis von Theorie und Praxis verstehen und gestalten wollten, und zwar in einer Sozialen Arbeit, die wir als gesellschaftliche Praxis verstanden, die für die professionell in ihr Arbeitenden eine politische Herausforderung war und immer noch ist.
Christina Thürmer-Rohr hat sich sofort und mit Vehemenz in diese konfliktbeladene Diskussion mit dem von ihr vertretenen « Untersuchungsbegriff » eingebracht. Theorie und Praxis waren für sie Untersuchungsgegenstände in einem Bereich, in dem die Widersprüche dieser Gesellschaft, die Auswirkungen von Herrschaft auf die Lebensbedingungen und Lebensweisen vieler Menschen deutlich zutage treten und gleichzeitig durch eine verkürzt verstandene Praxis von « Hilfe », die ihr Verstricktsein mit Herrschaft nicht reflektiert, immer wieder zugedeckt werden. Gegen eine harmonisierende Identitätspolitik hat sie, wie ich glaube, geradezu einen Abscheu gehabt.
Um die Dekonstruktion des Normativen, soweit es die Legitimation von Herrschaft ist, ging es ihr schon zu Beginn ihrer Arbeit in diesem Studiengang, und das ist – bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen, die sie ihrem Denken im Laufe der Zeit gegeben hat – eine Konstante ihres Lebens in den Wissenschaften und in der Politik geblieben. Indem sie wissenschaftliches Arbeiten als politische Praxis gesehen und gelebt hat, hat sie einer fragwürdigen Verselbständigung – und damit Verantwortungslosigkeit – « der Theorie » von « der Praxis » widerstanden. Für ein Studium, das so sehr auf eine Praxis in gesellschaftlichen Konfliktzonen außerhalb der Universität vorbereitet wie die universitäre Sozialpädagogik, ist das ein wesentlicher und unverzichtbarer Beitrag.